Teil 56

Deutschland, Sommer 1982: Der “schwarze Riese” aus Oggersheim wirft seinen flächendeckenden Schatten voraus. Von der Linken noch jahrelang als minder bemittelte “Birne” verspottet, ist er angetreten, um eine schier endlose Regentschaft zu beginnen, die “bleierne Zeit” der Ära Helmut Kohl. In Spanien beißt sich die Nationalelf in typischer Manier bis ins Finale der Fußball-WM durch, um dort Italien mit 1:3 zu unterliegen – die BREITEN verfolgen die Spiele im “Fernsehzimmer” der “Pension Wölfl”, wo man wie in den Jahren zuvor während der Studiosession Quartier macht.
Am 10. Juni – während der Anreise nach Franken – hat eine Meldung im Autoradio für Gesprächsstoff gesorgt: Rainer Werner Fassbinder ist an einer Überdosis Kokain gestorben. In seinen letzten Tagen hat sich der Fußballfreak noch intensiv mit eigenen Entwürfen für Aufstellung und Taktik der deutschen Elf beschäftigt.

EXTRABREIT produziert nun das dritte Album in einem Zeitraum von zwei Jahren, eine ziemlich hohe Schlagzahl, selbst gemessen an den Maßstäben der Zeit. Aber so ist es vertraglich vereinbart und von allen Beteiligten gewollt. “Das war für uns normal, dieser Rhythmus, im Sommer ging’s nach Hiltpoltstein.” (Stefan Kleinkieg)

Nach der rotzigen Aufbruchshymne Her mit den Abenteuern (“Ich will nicht in die Freie Deutsche Jugend, ich will nicht in die CDU”), die bereits im Proberaum Form angenommen hat, entsteht in Hiltpoltstein die Endfassung von Kleptomanie, das sich “einer gefährlichen Einzelsportart” (Kai Havaii) widmet, dem strategisch durchdachten Kaufhaus-Klau (siehe hierzu auch Folge 23). Die Single wird nicht nur – nach Her mit den Abenteuern/Duo Infernal – die Charts entern, sondern gerade live einer der “All-Time-Favourites” werden.

Wie immer werden in den kurzen, klar strukturierten Songs schlaglichtartig Themen der Zeit und die eigene Verfassung darin beleuchtet. Neben Superhelden, das die surrealen Marvel-Comic-Welten und ihren Symbolgehalt porträtiert, geht es auch um die “Chronik der alltäglichen Ereignisse”, wie in dem atemlosen Geisterbahn fahr’n, in dem das Gefühl der Enge und der Paranoia in den Städten beschworen wird.
Das laszive und auf “Hochglanz” polierte Duo Infernal, das sich durch treibende Bläser und der Mitwirkung von Marianne Rosenberg zu einer Art “Turbo-Schlager” entwickelt, wird abgefedert durch die tickende Leere und Introvertiertheit von Kokain.
Komm nach Hagen wiederum setzt der Heimatstadt und dem gerade blühenden Pop-Hype darum ein (selbst-) ironisches Denkmal. (“Wir hören Popmusik – im Frieden und im Krieg”).
Das etwas rätselhafte Lass die Kleinen in Ruh mit einem Text von Wolfgang Luthe erhält durch die Mitwirkung der 8jährigen Judith, Tochter einer ehemaligen B-56-Bewohnerin, einen unschuldig-schrägen Charme. Der Garagenrock-Knaller Liebling rundet das Bild in punkiger Manier ab.

“Dann gab es da noch Verschwörung, eine ziemlich langsame Nummer, die so einen etwas gefühligen Text hatte und wir waren uns sehr unsicher damit, ob das nicht zu zahm ist. Und dann kam noch Laui (Tourmanager Norbert Thiel) vorbei und meinte, das klinge wie Peter Cornelius. Da beschlossen wir endgültig, es nur als Bonus-Track auf die MusikCassette zu nehmen.” (Kai Havaii)



Kai Havaiis Notizbuch, Juni 1982


Die “Rückkehr” ist ein in jedem Moment energiegeladenes, gut gespieltes Album, das die Band in Topform zeigt. Die Wochen in Hiltpoltstein sind geprägt von einer Atmosphäre der selbstbewussten Hochkonzentration. ”Wir waren alle sehr besessen, gut drauf und machten nebenher irgendwelchen Scheiß...” (Kai Havaii). In die letzte Kategorie dürfte auch jene Episode gehören, die sich Anfang Juli ereignet...

Man ist bereits beim Endmix angelangt (der, wie sich bald herausstellen wird, nicht die Mischung sein wird, die später gemastert und gepresst wird) und die arbeitsreichsten Wochen der Produktion liegen bereits hinter der Band. Im Großen und Ganzen hat man etliche Erfolgserlebnisse gehabt. Schlagerperle Marianne Rosenberg hat das Angebot zur Zusammenarbeit mit dieser angesagten Band begeistert angenommen und sich während der Aufnahmen in Berlin engagiert und flirtig präsentiert. Der schillernde Günter Mayer, der inzwischen alles Mögliche für die Band erledigt, hat französische und japanische Übersetzungen für ein Textfragment in Superhelden besorgt, die beiden Zeichner Mali & Werner haben ihre Comic-Illustrationen (siehe Folge 55) präsentiert und Manager JAH knobelt bereits mit METRONOME die Idee mit den fünf verschiedenfarbigen Covern und den Einschusslöchern aus.

Soeben ist es gelungen, den großen Badezimmerspiegel des Studios taktgenau vor dem Mikrofon zu zerschmeißen, um dem finalen “Schluß!” am Ende von Kokain eine akkustische Pointe zu geben, ein Vorgang, der den Unterschied zur heutigen Produktionstechnik bestens illustriert. Manni Neuner, der schwergewichtige Tonmann, reinigt noch einmal die Tonköpfe der Bandmaschine, um die Endversion des Mixes vorzubereiten. Noch ist es früher Nachmittag. Auf Vorschlag von Kleinkrieg begibt man sich bei sonnigem Wetter in das nahe gelegene Nürnberg, um in der Spielzeugstadt einen Satz der neuen großkalibrigen Druckluft-Pistolen zu erwerben, mit denen man, wie Stefan weiß, auch “Leuchtspur-Raketen” verschießen kann. Nach einem kleinen Bummel durch die Stadt der Reichsparteitage kehrt man gut gelaunt ins Studio zurück, wo bereits der eben angereiste JAH wartet. Ihm, den Bewohnern des Fleckens Hiltpoltstein und natürlich nicht zuletzt der Band steht eine unvergessliche Nacht bevor...



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